Kochbücher aus früheren Zeiten zeugen noch von einer kaum überschaubaren Vielfalt an regionalen Kulturpflanzen. Weil die meisten von ihnen jedoch den heutigen Anforderungen nach normierter Gleichförmigkeit, Haltbarkeit, gefälligem Aussehen und einheitlichem Geschmack nicht mehr entsprachen, verschwanden sie aus den Regalen des Lebensmittelhandels und mit ihnen viele ihrer gesundheitsfördernden Wirkungen. Die fortschreitende Vereinheitlichung und Marktoptimierung des Sortiments hatte nicht allein den Verlust an genetischer, sondern auch an geschmacklicher Vielfalt und kulinarischer Traditionen zur Folge.  Höchste Zeit, sich dieser wieder zu besinnen, propagiert Spitzenkoch Johann Reisinger, ein Vorreiter in der „Arche Noah“-Kulinarik.

Was sind alte Sorten?

Als alte Sorten werden Nutzpflanzen bezeichnet, die zwischen 1800 und 1950 in zumeist kleinbäuerlichen Betrieben angebaut wurden. Heute sind schätzungsweise 75 Prozent ihrer  weltweiten Vielfalt, in Deutschland beinahe 90 Prozent, infolge einer zunehmend industrialisierten Landwirtschaft verlorengegangen und damit auch ein Stück an kulturellem Reichtum. Nur wenn der verbliebene Genpool erfasst wird, die Schätze früherer Zeiten mitsamt ihren Vorzügen wiederentdeckt werden und Einzug in die Alltagsküche finden, kann dieser Trend umgekehrt werden.

Ihre Rolle als Problemlöser

Welche verheerenden Auswirkungen eine genetische Verarmung haben kann, wird an der großen Hungersnot in Irland zwischen 1845 und 1852 deutlich, bei der eine Million Inselbewohner starben. Sie war die Folge eines Pilzbefalls der Kartoffel, die zu dieser Zeit das Hauptnahrungsmittels der Inselbewohner darstellte. Da lediglich zwei anfällige, nicht-resistente Sorten angebaut wurden, kam es zur Vernichtung der gesamten Ernte. Infolge der Hungersnot starben eine Million Menschen, Millionen wanderten aus.

Gerade im Weinbau stellen zunehmende Starkregenereignisse in nördlicheren Regionen, anhaltende Dürre im Süden eine immense Herausforderung dar, weil dadurch die Pflanzen geschwächt und somit anfällig für Schädlings- und Krankheitsbefall werden. Um zu verhindern, dass sich als Konsequenz der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln im Weinberg deutlich erhöht, ist es unerlässlich, bei der Anpassung an den Klimawandel neue, resistentere Rebsorten zu züchten und zu erproben. Und dies nicht mithilfe von Gentechnik, sondern durch Kreuzungen alter wiederstandfähiger Sorten, mit modernen ertragreichen. Diese neuen v.a. pilzresistenten Reben werden als PIWI bezeichnet.

Die Züchtung neuer, resistenter Rebsorten erfordert viel Geschick, da die Bestäubung händisch erfolgt

Wer mehr zu diesem Thema erfahren möchte, dem empfehlen wir unseren gesonderten Beitrag unter https://www.natur-nachhaltig-erfahren.de/sorten-rassen-kulinarik/piwi-sorten-als-chance-fur-den-weinbau-der-zukunft/.

Geschmacksvielfalt und Robustheit

Alte Sorten, bei deren Züchtung einheitliches Aussehen einst noch nicht im Vordergrund stand, enthalten oft mehr Aromastoffe als heutige Allerwelts-Sorten und schmecken daher meist intensiver. Nicht nur das, jede alte Nahrungspflanze hat ihren eigenen, sortentypischen Geschmack, ihre Wiederentdeckung eröffnet daher den Zugang zu neuen kulinarischen Erlebniswelten. Die richtige Zubereitung vorausgesetzt.

Durch die Anpassung an regionale Umweltbedingungen sind alte Sorten robust und resistent geworden, etwa gegen Pilzerkrankungen. Daher gedeihen sie auch besser ohne Kunstdünger und synthetischen Pflanzenschutz als Erzeugnisse industrieller Landwirtschaft.

Auch bei Radieschen gibt es eine große Sortenvielfalt

Positive Gesundheitswirkungen

Oft regional entstanden, waren alte Kulturpflanzen in ihrem ursprünglichen „Terroir“ perfekt an Klima, Boden und Witterungsverhältnisse angepasst. Dies befähigte sie, Mineral- und Nährstoffe in großer Zahl aufzunehmen.

Sind also alte Kulturpflanzensorten grundsätzlich gesünder als Neuzüchtungen? Bei der Beantwortung dieser Frage bedarf es einer differenzierten Betrachtung. Neuere Studien liefern immerhin Fingerzeige bezüglich der Faktoren, die eine gesundheitsfördernde Wirkung positiv beeinflussen. Dabei spielen sogenannte sekundäre Pflanzenstoffe eine zentrale Rolle. Sie sind hauptsächlich in Gemüse, Obst, Nüssen, Hülsenfrüchten und Vollkornprodukten enthalten und verleihen den pflanzlichen Lebensmitteln ihre Farbe. Diese Flavonoide, Carotinoide, Phytosterole, Glucosinolate, Phytoöstrogene und weitere Stoffe verjüngen bei Menschen die Zellen, verhindern Infektionen, stärken das Immunsystem und beugen Krankheiten vor. Sulfide verringertem zudem das Risiko für bestimmte Krebsarten. Tatsache ist, dass alte Sorten zumeist mehr dieser Gesundheits-Booster in sich tragen als ihre modernen Artgenossen. Aber was sind dafür die Gründe? Eine Hauptursache liegt offensichtlich nur zum Teil in der Pflanzen selbst, sondern an den Einflüssen, denen sie ausgesetzt sind. Man fand nämlich heraus, dass sie umso mehr sekundäre Pflanzenstoffe und Antioxidantien produzieren, je mehr sie moderate Belastungen etwa bei der Abwehr von Fressfeinden, Viren, Bakterien, Pilzen und UV-Strahlung oder beim Anlocken von Bestäubern erfahren. Es sind also insbesondere die herausfordernden Wachstumsbedingungen, die wesentlich zum Gesundheitswert alter Sorten beitragen.

Im Freilandanbau wie hier bei „Krautwerk“ im Weinviertel sind die Pflanzen höherem Stress ausgesetzt – und bilden als Abwehrreaktion gesunde sekundäre Pflanzenstoffe aus.

Diese gedeihen nämlich traditionell unter freiem Himmel und nicht in stressfreien Gewächshäusern, werden zudem zur richtigen Zeit reif geerntet und oft nach Großmutters Art schonend verarbeitet. Auch gehen wichtige Pflanzenmikrobiome in Monokulturen, auf belasteten und überdüngten Böden, bei Pestizideinsatz sowie bei manchen neueren Züchtungen offensichtlich stärker verloren. Bedingungen, die beim zumeist biologischen Anbau alter robuster Sorten nicht herrschen.

Nicht immer entfaltet sich die Gesundheitswirkung traditioneller Sorten aber in allen Bereichen. So kamen, auch weil das Auge bekanntlich mit-isst, in letzter Zeit wieder ungewöhnliche Tomatensorten in den Handel, die sich in Form, Größe und Farbe von den herkömmlichen unterscheiden. Jedoch fehlt den schwarzen oder grünen Exemplaren der rote Farbstoff Lycopin. Dieser zählt zu den wichtigen Antioxidantien, kann das menschliche Darmmikrobiom verbessern und die Gefahr, an Arteriosklerose zu erkranken, vermindern. Doch bietet das Vorhandensein in roten Tomatensorten noch keine Garantie, dass das Lycopin im Körper seine positiven Wirkungen entfalten kann. Forscher fanden nämlich heraus, dass Tomaten, die über einen längeren Zeitraum auf ca. 88 Grad erhitzt werden, zwar weniger Vitamin C als rohe Exemplare aufwiesen, jedoch eine weitaus höhere Lycopin-Konzentration als diese. Speziell eine traditionelle mediterrane Zubereitungsart, bei der die roten Früchte lange vor sich hinköcheln, wodurch der gesunde Stoff aus der Schale gelöst wird, beschert also ein köstliches Superfood.

Maximal gesund: Alte rote Tomatensorten im biologischen Freilandanbau reif geerntet und schonend lange geköchelt.

Gesunde Apfelsorten

Nicht alle alte Apfelsorten sind resistenter gegenüber Krankheiten. Jedoch gibt es einige, die weniger anfällig gegen die häufigsten Krankheiten wie Mehltau, Krebs und Schorf sind.

Der gängige, marktoptimierte Handel hat sich aber längst entschieden und Apfelsorten ausgelistet, die neben hohen Erträgen auch anderen modernen Ansprüchen wie Robustheit bei Ernte, Transport und Lagerung, Haltbarkeit und Einheitlichkeit nicht mehr genügen. Kantige Äpfel wie die delikaten Kalville rollen auf dem Fließband nicht und werden heute ebenso wenig angeboten wie dünnschalige Sorten, die schnell Druckstellen aufweisen oder Sorten, die nach dem Aufschneiden rasch bräunlich werden. Nur ist gerade diese ungewollte Eigenschaft ein Indiz für das Vorhandensein gesundheitsfördernder Inhaltsstoffe.

Der v.a. im österreichischen Wald- und im Weinviertel angebaute kleine, tiefrote Apfel „Roter von Simonffi“ ist ein Beispiel für regional beliebte Sorten

Oftmals enthalten nämlich alte Züchtungen mehr Polyphenole, aromatische Verbindungen, als neuere. Diese schützen menschliche Zellen vor freien Radikalen und helfen gegen hohen Blutdruck. Sie machen den Apfel jedoch säuerlicher. Da viele Verbraucher aber süße Äpfel bevorzugen, wurde das Obst entsprechend zunehmend in diese Richtung gezüchtet, wodurch viele der positiven Eigenschaften verloren gingen. Als Faustregel gilt: Färben sich die Schnittstellen von Äpfeln relativ rasch braun, weil durch die Polyphenole das Fruchtfleisch oxidiert, umso größer ist der Gesundheitswert. Besonders viele dieser gesunden sekundären Pflanzenstoffe enthält z.B. die alte Sorte Boskoop, die sich seit 1863 bis heute großer Beliebtheit insbesondere als Bratapfel und für Kuchen eignet. Eine weitere alte Sorte mit vielen Polyphenolen und zudem einem hohen Gehalt an Vitamin C ist hingegen fast gänzlich aus dem Sortiment von Handelsketten und Obstläden verschwunden: Die Goldrenette Freiherr von Berlepsch, kurz Berlepsch genannt, entstand im Jahr 1880 in Deutschland aus der Kreuzung von Ananasrenette und der alten englischen, höchst aromatischen Sorte  Ribston Pepping.

Anhand dieser Beispiele eine allgemeingültige Grundregel zu formulieren, wäre jedoch nicht seriös. So glänzt beispielsweise auch die relativ neue Sorte Idared, die seit 1942 gehandelt wird, mit einem hohen Anteil an Polyphenolen, sowie der erst seit 1990 in größerem Maßstab angebaute Apfel Braeburn aus Neuseeland mit einem überdurchschnittlichen Gehalt an Vitamin C.

Verallgemeinerungen sind folglich nicht statthaft, jedoch lassen sich tendenzielle Aussagen durchaus formulieren. Alte Apfelsorten besitzen häufig einen höheren Anteil an sekundären Pflanzeninhaltsstoffen. Und viele sind für Allergiker verträglicher und verursachen seltener Kreuzreaktionen. Da eine Apfelallergie häufig keine  Allergie auf alle Äpfel ist, sondern lediglich Reaktionen auf bestimmte Sorten auslöst, empfiehlt es sich vorsichtshalber, auf die erwähnten Berlepsch und Boskoop oder andere alte Sorten wie Finkenwerder Herbstprinz, Gravensteiner oder Kaiser Wilhelm zurückzugreifen, die sich jedoch meist nur in auf Bauernmärkten, Dorfläden oder im Naturkosthandel aufspüren lassen. Aber dafür sind sie in der Regel ungespritzt und nicht wie manche Allerwelts-Sorten aus dem Supermarkt mit höherem Allergierisiko behaftet. Allerdings gilt es zu beachten, dass nicht nur die Sorte Einfluss auf das allergene Potenzial eines Apfels hat, sondern auch andere Faktoren wie Anbau, Frische, Lagerung und Zubereitung eine Rolle spielen.

Bekömmliches Bier aus Urgetreide

Sie gelten als besonders nachhaltig und schmackhaft. Alte Getreidesorten wie Dinkel, Emmer oder Einkorn erfreuen sich in den letzten Jahren einer zunehmenden Beliebtheit. Gerade Emmer ist unempfindlich gegenüber Blattkrankheiten wie etwa dem Gelbrost. Es handelt sich nämlich um ein Getreide, dessen Korn von einer schützenden Hülle umgeben ist – der sogenannten Spelze. Diese speichert und reguliert die Feuchtigkeit des Saatkorns und

schützt vor Krankheiten. Aufgrund ihrer Robustheit eignen sich Urgetreidesorten daher besonders für den ökologischen Landbau, in dem der Einsatz chemischer Pflanzenschutzmittel untersagt ist.

Aber sind die alten Sorten auch gesünder? Dass sie zumindest verträglicher sind, kann  Maximilian Krieger bezeugen. Der Geschäftsführer der Riedenburger Bio-Brauerei, die bereits Ende der 1990er-Jahre anfing, mit ihnen zu brauen, berichtet, vor Jahren die Dinkelsorte gewechselt und eine neuere erprobt zu haben. Sofort hatten sich Kunden gemeldet, weil sie das Bier nicht mehr vertragen haben. Nach der Umstellung auf die alte Sorte waren die Unverträglichkeiten verschwunden.

„Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Urgetreide verträglicher als herkömmliches Getreide ist – vor allem die alten, ungekreuzten Sorten.“

Geschäftsführer Maximilian Krieger, Riedenburger Brauhaus

Zur Bekömmlichkeit der alten Getreidesorten trägt auch ihr höherer Eiweißgehalt bei, die Biere sind somit milder.

Informationen zum Thema finden sich u.a. unter:

https://www.slowfood.de/was-wir-tun/projekte-aktionen-und-kampagnen/arche-des-geschmacks

https://www.arche-noah.at/

Text: Peter Grett
Bilder:
Aufmacher: Lutz Dürichen
Bild 1 Bestäubung: Oliver Geissbühler/Delinat
Bild 2 Radieschen: Arche Noah
Bild 3 Krautwerk: Lutz Dürichen
Bild 4 Tomaten: Arche Noah/Rupert Pessl
Bild 5 Äpfel: Anett tobies
Bild 6 Emmer-Bier: Riedenburger Brauhaus, Michael Krieger GmbH und Co KG