Wer an den Karpatenbogen nach Rumänien, genauer gesagt nach Transsilvanien reist, kommt aus dem Staunen kaum heraus. Dort, wo vor 200 Millionen Jahren ein Urmeer toste, finden sich heute bizarre Felsen, wilde Schluchten, mehr als 10.000 Höhlen, echte Urwälder und sogar Mammutbäume. Öko-Touristen kommen hier, weitab von allen Schnellstraßen, voll auf ihre Kosten. Denn nirgendwo sonst in Europa sind die Chancen, gefährdete Wildtiere wie Wölfe, Luchse oder Braunbären in freier Wildbahn zu beobachten, größer als in der Wildnis Transsilvaniens. Außerdem ist das „Land jenseits der Wälder“ immer für eine Überraschung gut …
Im Narzissenwunderland
Die ideale Ouvertüre für ein Land der Wunder: Während im Frühjahr beim Spaziergang entlang der Fogerascher Berge der Schnee noch auf den Gipfeln liegt, hat die Sonne bereits einen duftenden Narzissenteppich vor dem Ort Holzmengen ausgebreitet. Neben den Narzissen als Hauptdarstellern füllen Trollblumen, Sibirische Schwertlilien und Duftveilchen die schönen Nebenrollen der Frühjahrs-Inszenierung aus.
Als wäre der Anblick von Amaryllisgewächsen, Veilchen und Lilien vor schneebedeckten Bergen im Harbachtal nicht schon kitschig und märchenhaft genug, sorgen Amseln, Drosseln, Pirole und Kuckucke für den musikalischen Background.
Wer im Frühling in Transsilvanien ist und diese blühenden Wunder erleben möchte, sollte den Wegweisern nach Hosman folgen. Denn so heißt der schöne Ort Holzmengen auf Rumänisch. Eine Fahrstunde entfernt wartet dann schon das nächste unerwartete Wunder. Denn – oh ja – es gibt Vulkane in Transsilvanien.
Vulkan, Smaragdsee und Lavaorgeln
Einen solchen Drehort hätte man am Karpatenbogen wohl kaum erwartet. Für die Filmserie Django, eine Neuinterpretation des Westernklassikers von Sergio Corbucci aus dem Jahr 1966 – ein Western, der übrigens auch Quentin Tarantino zum Film Django Unchained inspirierte –, verlegte die Netflix-Produktion den Dreh kurzerhand nach Transsilvanien. Mitten in einen Vulkankrater.
Dieser hübsche Vulkan namens Racoș wird auch so manche Kenner des Landes überraschen. Die Attraktivität des jüngsten Vulkans Rumäniens hat man nämlich recht spät entdeckt. Erst in Zeiten der Drohnenfotografie kam die Eleganz des kreisrunden Vulkankraters zur vollen Geltung und erweckte weltweit mediale Aufmerksamkeit. Dabei kann der wunderschöne Vulkankegel durchaus zu falschen Rückschlüssen führen. Denn ein glühendes Spektakel aus Rauch, Asche, Flammen und Lavabomben hat es hier nie gegeben.
Der Racoș ist mit gerade einmal zwei Millionen Jahren auf seinem Kraterbuckel nicht nur der ruhigste, sondern auch der jüngste Vulkan Rumäniens. Er war nie sonderlich aktiv und verstand sich darum auch nicht so recht auf Ausbrüche. Spektakulär sind bei diesem friedlichen Gesellen jedoch die in vielen Farben schimmernde, wild und bizarr emporragende Kraterwand sowie wuchtige, acht Meter hohe Hexagon- Basaltsäulen. Unweit des Kraters sieht es tatsächlich so aus, als hätten Riesen oder gigantische Präzisions-Schneidemaschinen perfekte sechseckige Säulen aus dem vulkanischen Basalt gefräst.
Das vor eineinhalb Millionen Jahren entstandene scharfkantige Gesteinswunder wird von poetisch veranlagten Geologen gerne auch als Lavaorgel bezeichnet.
Ein Smaragd- und ein Vulkansee
Ein paar tapfere Tannen wachsen im Krater aus dem rot-sandigen Boden. Von oben schaut sich ein kreisender Rotmilan die Szenerie genau an. Denn unweit der Lavaorgeln liegt auf vulkanischer Erde ein schimmernder Smaragdsee, umgeben von einem bewaldeten Gebiet mit reichlich Beute für die scharfäugigen Greifvögel. Je nach Lichteinfall changiert das Farbspiel des Sees von leuchtendem Blau hin zu Türkisgrün. Das pulverisierte Gestein, das als feines Pulver im See vorwiegend das blaugrüne Spektrum des Sonnenlichts reflektiert, ist allerdings nicht durch einen Eiszeitgletscher in den See geraten. Vielmehr ist der See eine ehemalige Bergbaugrube und ein sogenannter Himmelsteich. So werden Gewässer bezeichnet, die nur vom Regen der Wolken gefüllt wurden. Auch sein wahrer Name Tannensee (auf Rumänisch: Lacul Brazi) ist übrigens wunderschön, aber unter dieser Bezeichnung kennt ihn in Rumänien kaum jemand.
Fast ebenso unbekannt und ebenfalls ein Himmelsteich ist der einzige Kratersee Rumäniens im Naturschutzgebiet Mohoș im Kreis Harghita. Der Sfânta-Ana-See (ungarisch: Szent Anna-tó) befindet sich im Krater des Vulkans Ciomatu Mare in den Ostkarpaten. Da er sich nur durch Regen speist, ist der Mineralisierungsgrad des Wassers sehr gering. Die Reinheit des Sees entspricht in etwa der von destilliertem Wasser.
Wunderwelt des Grafen und des Königs
Ein Vulkan, Basaltorgeln, ein Smaragd- und ein Kratersee – all diese zauberhaften Orte hat mir übrigens Graf Tibor Kálnoky genannt, der unweit dieser Naturwunder im Szeklerland seinem ehemaligen Familienbesitz wieder Leben einhaucht. Seine Familie verbrachte über acht Jahrhunderte in Miklósvár, bis sie während des Kommunismus enteignet wurde und in alle Welt emigrierte.
1997 kehrte Graf Kálnoky zurück nach Rumänien – und wer möchte, kann heute in einem seiner authentisch renovierten siebenbürgischen Häuser übernachten, wobei sicherlich aus gutem Grund das urige Gästehaus von König Charles III. besonders viel Beachtung findet. Seine Liebe zu Transsilvanien und die Sehnsucht nach Authentizität, Schlichtheit und Ruhe wird das Oberhaupt des Vereinigten Königreichs sicherlich auch zukünftig häufiger zu seinem fernen Verwandten Tibor Kálnoky führen. Noch weiter, behauptet Charles III., läge seine Verwandtschaft mit jenem Fürsten Vlad III. zurück, der zur historischen Vorlage von Bram Stokers Roman Dracula wurde.
Seinen privaten Rückzugsort, das völlig abgelegene, nicht über asphaltierte Straßen zu erreichende Örtchen Zalánpatak hatte der damalige Prinz von Wales übrigens auf einem fünfstündigen Spaziergang mit dem Grafen entdeckt.
Das Paradies der Erde…
… liegt auf dem Rücken der Pferde, sagt ein altes Sprichwort. Idealerweise erschließt man sich die Landschaft des Szeklerlandes vom Pferdesattel aus. Zalánpatak, das auf Rumänisch Valea Zălanului heißt, ist ein unberührtes, in sanft geschwungene Hügel eingebettetes Juwel. Der versteckte Ort ist ein idealer Ausgangspunkt, um sich – nach der Übernachtung im Gemach des britischen Königs – am Ende des Ortes einen fantastischen Heilpflanzengarten anzusehen. Inspiriert von ihrer Großmutter und all den Heilpflanzen, die sie umgeben, entwickelt Raluca Olaru hier nachhaltige, wohltuende Kosmetik aus Lavendel, Pfefferminze, Salbei, Ringelblume, Rosmarin, Färberdistel und zahlreichen anderen Pflanzen.
An weiteren Geheimtipps mangelt es dem Grafen nicht. Zu erkunden wären u. a. noch ein Schloss, die Hof- und Dorfschmiede von Barabas Gyuri in Miklósvár, die Kunstreitschule für Roma-Kinder seiner Frau Gräfin Anna Kálnoky oder die geheimnisvollen Höhlen in der Vârghiş-Schlucht.
Die Höhle des Rattenfängers
Wer die wahren Schatzkammern Transsilvaniens finden möchte, sollte steile Anstiege und abenteuerliche Fluss-Überquerungen nicht scheuen. Lange Zeit war die Vârghiş-Schlucht für Touristen kaum zugänglich. Allein wagemutige Forscher erkundeten hier an den fast senkrechten Felswänden bereits vor über hundert Jahren die teils spektakulären Höhlenöffnungen. Die berühmteste von ihnen ist die gut zugängliche Almascher-Höhle, die bereits in einer Gerichtsurkunde aus dem Jahr 1637 erwähnt wurde. Mit einer Gesamtlänge von 1.527 Metern ist sie die mit Abstand längste aller 124 Höhlen in der Schlucht.
Zum wahren Juwel für Höhlenforscher wurde die Höhle durch die Entdeckung von Überresten eines prähistorischen Menschen. In Kriegszeiten wurde sie von Bewohnern der nahen Dörfer als Schutzraum genutzt und ist heute, in ihren tiefsten Gängen, Zufluchtsort für seltene Fledermäuse.
Für die Siebenbürger Sachsen hat sie eine zusätzliche Bedeutung, da einer Sage nach der bekannte Rattenfänger seine entführten Kinder aus Hameln in eben jene Höhle führte. Hier sollen sie wieder ans Tageslicht gekommen sein und das Land besiedelt haben.
Auf der anderen Seite der Schlucht versteckt sich in 35 Metern Höhe eine als Tatarenhöhle bezeichnete spektakuläre Felsformation. Es erfordert einiges an Kletterkünsten, um das versteckte Plateau zu erreichen.
Unweigerlich muss man beim Anblick der tunnelartigen Doppelhöhle, die während der Tatareninvasion zum Zufluchts- und Verteidigungsort einer Familie namens Ugron wurde, an einen Schädel mit zwei Augenhöhlen (!) denken. Eine solche vom Wasser und der Erosion geschaffene Kuriosität ist in Europa wohl einmalig.
Mauerläufer, Wasseramseln und Gelber Frauenschuh
Von allen Schluchten Siebenbürgens zählt diejenige von Zărnești mit Sicherheit zu den am einfachsten erreichbaren. Eine Schlucht im Nationalpark Königstein, die man auch ganz bequem durchwandern kann. Am besten mit einem ausgewiesenen Experten der einheimischen Flora und Fauna wie Hermann Kurmes. Als Siebenbürger Sachse nennt er dieses Paradies beim deutschen Namen: Zerneschter Schlucht.
Unter allen Naturwundern, die hier zu finden sind, würde ich den Schönheitspreis sofort an den Mauerläufer vergeben. Seine in der Sonne rubinrot funkelnden Flügel können es mit den attraktivsten tropischen Schmetterlingen aufnehmen.
Hermann Kurmes weist auf seinen Führungen durch den Nationalpark gerne auch auf versteckte und seltene Wunder hin. Wie die Wasseramsel zum Beispiel oder die endemische und weltweit einzigartige Königsteinnelke. Eine Pflanze, die ihre rosa Blüte nur bei Sonnenschein und nur in den Sommermonaten öffnet.
Das Füllhorn der Natur wurde über dem Nationalpark Königstein (rumänisch: Piatra Craiului) besonders reichlich ausgeschüttet. Ein Drittel aller in Rumänien zu findenden Pflanzenarten sind hier heimisch. Zu den besonders hübschen Arten zählen der Alpen-Mohn, der strahlend blaue Clusius-Enzian und der Gelbe Frauenschuh, eine der prächtigsten wild wachsenden Orchideenarten Europas.
Das schönste Bergdorf der Karpaten
Wer am Rand des Königstein-Gebirges in tausend Metern Höhe auf ein ins Licht getauchtes Bergplateau kommt, dem wird erst einmal der Kopf verdreht. In Măgura, dem wohl schönsten Bergdorf Siebenbürgens, erstrahlt bei Sonnenschein die von Tannen, Fichten und Zirbelkiefern gesäumte Bergkulisse des Königstein- Massivs als perfekte Postkarten-Idylle. Die Pioniere des Öko-Tourismus, Katharina und Hermann Kurmes, haben hier von ihrer Villa Hermani aus einen der spektakulärsten Ausblicke in den Karpaten. Tatsächlich findet sich in Transsilvanien das größte zusammenhängende Waldgebiet Europas – und europaweit gibt es hier die meisten wilden Braunbären. Etwas, das die beiden Naturfreunde frühzeitig als Pluspunkt erkannten.
Neben köstlichem Baumstriezel-Backen in Wolkendorf und Ausflügen zu den prächtigen Kirchenburgen organisieren sie deshalb in erster Linie geführte Touren in die Wildnis, wo sie sich auf die Spuren von Bären und Wölfen begeben.
Schwarzes Gold und ein Meer aus Sonnenblumen
Van Gogh wäre dreißig Kilometer nordwestlich von Sighișoara sicherlich verrückt geworden vor Glück. Sonnenblumen bis zum Horizont, Sonnenblumen ohne Ende. Vom Dörfchen Cund aus kann man auf einer Kutschfahrt in dieses strahlend gelbe Meer eintauchen und sich tags darauf auf einer geführten Trüffeljagd auf die Suche nach dem schwarzen Gold Siebenbürgens machen. In einem Sieben-Gänge-Menü verarbeitet Jonas Schäfer die gefundenen Wildkräuter und Trüffel dann direkt in seinem kulinarischen Refugium.
Valea Verde heißt dieser Ort, an dem Jonas und Ulrike Schäfer seit 2005 ihr Glück gefunden haben. Der Ort Cund war lange – ähnlich wie bei abgelegenen italienischen Dörfern der Fall – auf dem Weg zu einem verlassenen Dorf. Durch die Initiativen der Familie Schäfer, des Käsemeisters István Varga und des Österreichers Christian Harfmann ist der Ort heute wieder mit Leben erfüllt. Eselwanderungen, Übernachtungen in einer abgelegenen Wildhütte, von deren Terrasse aus man in Ruhe Rotwild, Wildkatzen und Adler beobachten kann, und eine Bio-Käserei im Dorfzentrum sind nur einige Attraktionen des siebenbürgischen Bilderbuchdorfes.
Wer wissen möchte, wo das wahre Herz Transsilvaniens schlägt, sollte zeitlose, verwunschene Orte wählen, in denen man ganz bewusst auf eine Asphaltierung der Zufahrtsstraßen verzichtet.
Das gilt für das Bergdorf Măgura und die Anwesen des Grafen Kálnoky ebenso wie für das Valea Verde in Cund. In allen hier vorgestellten Orten dient der natürliche Charakter wilder Wald- und Feldwege dazu, den traditionellen Dorfcharakter zu erhalten. Nur so passen auch die rasselnden Pferdefuhrwerke, die mit der Sense mähenden Bauern, die hübschen Dorfkirchen und die Schafe wunderbar ins idyllische Bild einer Landschaft wie aus einer anderen Zeit. Das wilde Herz Europas schlägt noch!
Text: Joscha Remus
Bilder:
Aufmacher und Bilder 1-5: depositphotos
Bild 6: Königliches Zimmer: KALNOKI
Bild 7: depositphotos
Bild 8: Tartaren-Höhle: Joscha Remus
Bilder 9-15: depositphotos
Bild 16 Sonnenblumen: Valea Verde
Bild 17 Bunte Häuser und Bild 18 Schlossburg Bran: depositphotos