Der bayerische Landesbund für Vogelschutz (LBV) und der Nationalpark Berchtesgaden wilderten Ende Mai zum vierten Mal zwei junge, noch nicht flugfähige Bartgeier in einer Felsnische hoch über dem Klausbachtal aus. Die Besonderheit in diesem Jahr: Zum ersten Mal konnten zwei „Burschen“ aus dem Bartgeier-Zuchtnetzwerk mit 40 europäischen Stationen für die Auswilderung in den Berchtesgadener Alpen zur Verfügung gestellt werden. Der finnische „Wiggerl“ wurde im Zoo von Helsinki geboren und „Vinzenz“ stammt aus der Richard-Faust-Bartgeier-Zuchtstation im österreichischen Haringsee.

Im bayerischen Auswilderungsprogramm, das im Jahr 2021 gestartet wurde, konnten nun bereits acht Jungvögel dieser imposanten Art mit einer Flügelspannweite von bis zu 2,90 Metern ausgewildert werden - 140 Jahre nachdem der Mensch sie ausgerottet hatte.

Besonderer Nahrungsspezialist

Der einstmals gebräuchliche Name „Lämmergeier“ zeugt davon, welche Gefährlichkeit für Tier und Mensch man ihm lange andichtete. So würde er angeblich junge Schafe reißen und sogar menschliche Säuglinge „entführen“. Dabei hat sich der Bartgeier als einzige Geier-Art ausschließlich auf die Verwertung von Knochen, vornehmlich toter Huftiere verlegt. Diese Ernährungsweise machte eine Reihe körperlicher Anpassungen erforderlich. Um an die in den schwer verdaulichen Knochen enthaltenen nahrhaften Fette und Proteine zu gelangen, verfügt diese Art über extrem saure Magensäfte, damit sich der Knochenkalk gut auflöst. Zudem hat der Bartgeier eine besonders große Schnabelöffnung und seine Luftröhre reicht fast bis zur Schnabelspitze. Dadurch bekommt er auch dann ausreichend Luft, wenn ein Knochen im Rachen feststeckt. Zu große Knochenstücke werden in der Regel jedoch zerkleinert, indem sie aus großer Höhe auf Geröllhalden fallen gelassen werden bis sie in schnabelgerechte Portionen zersplittert sind.

Prächtiges Aussehen

Die meisten Geierarten haben an Hals und Kopf nur wenige Federn, so dass diese nicht verkleben, wenn die Vögel in frische Kadaver eintauchen. Da der Bartgeier jedoch kein Interesse an Fleisch und Gewebe hat, sondern abwartet, bis andere Geierarten oder auch Füchse, Wölfe oder Marder die gefallenen Tiere skelettiert haben, besitzt er ein ausgeprägtes Federkleid an Hals und Kopf, da keine Gefahr besteht, dass es bei der Nahrungsaufnahme verschmutzt. Zu seinem attraktiven Aussehen trägt auch das Verhalten bei, in eisenoxidhaltigem Wasser bzw. Schlamm zu baden, wodurch das Gefieder die arttypische rostrote Färbung erlangt. Namensgebend ist der markante, schwarze Bartstreif unterhalb des Schnabels.

Der namensgebende Bartstreif, die befiederte Kopfpartie und die rostrot gefärbten Federn verleihen der Art ihr attraktives Aussehen

Internationales Rettungsprogramm

Zwar steht die seltene, faszinierende Tierart heutzutage unter strengem Schutz, über dem Berg – um im Bild ihres alpinen Lebensraums zu bleiben -  ist sie jedoch längst nicht. Noch immer kommt es nämlich außerhalb von Schutzzonen, wo Jägern das Verwenden bleihaltiger Munition erlaubt ist, zur Vergiftung von Jungvögeln. Diese werden anfangs noch mit Gewebe und Weichteilen gefüttert, aus denen die starke Magensäure das Blei löst, was zum Tod der Tiere führen kann. Und nicht nur Blei, auch das Vergiften von z.B. Ratten, Füchsen und Wölfen ist für die majestätischen Vögel eine regelrechte Giftfalle.

Zu diesen Hindernissen für eine rasche Verbreitung kommt hinzu, dass Bartgeier erst mit 5 bis 7 Jahren geschlechtsreif sind und danach meist noch weitere Jahre vergehen, bis eine erfolgreiche Brut zustande kommt. Umso wichtiger ist es, den bisherigen Bestand von ca. 300 Tieren im Alpenraum durch weitere Nachzuchten in Menschenobhut zu ergänzen. Das Wiederansiedlungsprojekt ist daher auf mindestens zehn Jahre angelegt und soll die zentraleuropäische, alpine Population und dabei vor allem die Ausbreitung dieser seltenen Vogelart in den Ostalpen unterstützen. Während sich die Vögel in den West- und Zentralalpen nämlich seit 1997 auch durch Freilandbruten wieder selbstständig vermehren, kommt die natürliche Reproduktion in den Ostalpen nur schleppend voran. In den drei ersten Projektjahren wurden bereits fünf Bartgeier-Damen und ein Männchen ausgewildert.

Es ist bemerkenswert, mit welchem Einsatz Naturschützerinnen und Naturschützer aus verschiedenen Ländern sich dafür einsetzen, dass der Bartgeier in Europa wieder heimisch wird

Dr. Norbert Schäffer, LBV-Vorsitzender

In den ersten Lebensjahren ziehen die Vögel meist weit umher und erkunden bei Flügen, bei denen sie bis zu 400 Kilometer am Tag zurücklegen, große Teile des Alpenbogens bevor sie sich schließlich, nicht selten in ihrer Auswilderungsregion, niederlassen. Laut Ulrich Brendel, dem Nationalpark-Projektleiter ist vor 2030 kaum mit einem Bruterfolg in den deutschen Alpen zu rechnen. Mit Bavaria, der 2021 ausgewilderten Bartgeierdame, ist immerhin bereits ein Vogel des Projekts ganz in der Nähe des Nationalparks sesshaft geworden. Sie hat dort möglicherweise bereits ein Revier gegründet, in dem fremde Weibchen bald nicht mehr geduldet werden. Die Hoffnung besteht, dass sich später einmal potenzielle Brutpartner zu ihr gesellen werden.

Der Tag der Auswilderung

Die beiden noch nicht flugfähigen Jungtiere wurden am 29. Mai in Tragekisten verbracht und von Nationalpark- und LBV-Mitarbeitenden auf Kraxen zur Auswilderungsnische hinaufgetragen.

Mit Kraxen wurden die Transportboxen mit den Tieren hoch zur Auswilderungsnische gebracht.

„Nach dem geglückten Aufstieg haben wir unsere beiden neuen Schützlinge in zuvor vorbereitete Nester aus Fichtenzweigen und Schafwolle gesetzt. Anschließend wurden den Vögeln die GPS-Sender angelegt, sie wurden noch einmal untersucht und erstes Futter aus Rehknochen in der Nähe platziert. Direkt danach haben wir uns zurückgezogen, um den beiden Geiern eine gute Eingewöhnung in ihre neue Heimat zu ermöglichen“, erklärt LBV-Projektleiter und Bartgeier-Experte Toni Wegscheider. In der Felsnische auf 1.300 Metern Höhe werden die 88 und 89 Tage alten Geier von nun an ohne menschlichen Kontakt weiter aufwachsen und ihre Flügel trainieren.

„Wiggerl“ machte es sich im Nest aus Fichtenzweigen und Schafwolle gleich bequem

Wissenschaftler werden die Vögel in den kommenden Monaten rund um die Uhr von einem nahegelegenen Beobachtungsplatz aus und durch installierte Infrarotkameras und einen Livestream überwachen. „Die durchgehende Beobachtung ermöglicht uns, Unregelmäßigkeiten sofort zu erkennen. So können wir den beiden Vögeln einen optimalen Schutz bieten“, so Toni Wegscheider. Das Auslegen von Futter ohne direkten menschlichen Kontakt erfolgt je nach Bedarf im Abstand von mehreren Tagen. Der selbständige erste Ausflug der beiden Vögel dürfte nach ausgiebigen Flugübungen in etwa vier Wochen stattfinden. Danach werden sie noch bis in den Spätsommer in der näheren Umgebung der Felsnische im Nationalpark anzutreffen sein, bevor sie dann endgültig aufbrechen, um den europäischen Alpenraum zu erkunden.

Spannende Live-Übertragung der weiteren Entwicklung

Wie sich die beiden Bartgeier-Jungs entwickeln und wie sie ihre ersten Flugübungen machen, kann im Internet verfolgt werden. Über eine Live-Webcam werden die Geschehnisse in der Auswilderungsnische auf den Webseiten des LBV und des Nationalparks übertragen. In den darauffolgenden Monaten und Jahren kann auch der weitere Lebensweg der beiden Vögel mitverfolgt werden. Dank der GPS-Sender auf den Rücken der Vögel können Interessierte auf einer Karte des LBV beobachten, wo die Bartgeier künftig unterwegs sind.

Auf unsere Frage, ob die Tiere nach der anfänglichen Fütterungs-Phase dann auch genügend Nahrung im Nationalparkgebiet vorfinden würden, konnte uns Toni Wegscheider beruhigen. Schließlich seien genügend Fallwildkadaver vorhanden, da von rund 2000 Gämsen jährlich etwa 300 durch Abstürze, Krankheiten oder Lawinen zu Tode kommen.

www.lbv.de/bartgeier-webcam
www.nationalparkberchtesgaden.bayern.de
www.lbv.de/bartgeier-auswilderung
www.lbv.de/bartgeier-auf-reisen
www.eulen-greifvogelstation.at
www.bartgeier.ch/bartgeier/biologie

Text: Peter Grett
Bilder:
Aufmacher und Bild 1: Hansruedi Weyrich
Bilder 2 und 3: Markus Leitner